Macht und Ohnmacht

Macht und Ohnmacht Systeme, Strukturen und Hierarchien sind nicht zuletzt dazu da Macht auszuüben und zu erhalten. Auf einer menschlichen, individuellen Ebene bedeutet das nicht selten für die Personen, die diese Rollen ausfüllen, dass je mehr Macht äußerlich ausgeübt wird, das eigene, innere Entscheidungsspektrum sinkt. Was bleibt ist lediglich die Karikatur des Eigenen, das sich den Anforderungen und Zwängen gebeugt hat. Zum einen bezeichnet Ohnmacht ein psychologisches Gefühl, zum anderen ein pathologisches Symptom der Bewusstlosigkeit. Im Endeffekt sind diese beiden Erscheinungen eng miteinander verwandt: das Individuum ist nicht Herr im (eigenen) Hause. Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation kann es sein, sich eine Narrenkappe aufzusetzen und sich in ein anderes System, das der Regellosigkeit, zu versetzen.

 

Betrachtet man Bilder der Serie MACHT UND OHNMACHT wie DIE JURY, DAS GESETZ oder DER PUULK, werden zunächst Assoziationen zu Politik, zu Hierarchien und zu Entscheidungssituationen hervorgerufen. Die ironisch-kafkaeske Überzeichnung der Charaktere, farblich, gestisch und mimisch, erinnert an Maler wie Georg Grosz oder Otto Dix. Sie zeigten auf ihren Bildern eine kriegsversehrte Gesellschaft, die in ihrer Partywut den Alltag vergessen und sowohl den vergangenen I. Weltkrieg als auch den sich anbahnenden II. verdrängen wollte. Trotz dieser Assoziation, die vielleicht tatsächlich mehr auf einer formalen als auf einer inhaltlichen Ähnlichkeit beruht, liegt Undine Bandelins Fokus woanders. Nicht nur, dass sich seit der Zeit der beiden Weltkriege die Gesellschaft an sich verändert hat. Bandelin blendet in ihren Arbeiten die politische Situation nicht aus, sondern zeigt, dass sie sich zu einer Farce entwickelt hat, wie uns die Spruchbänder „ohne Inhalt“ und „Spielverderber“ auf dem Werk DER PUULK nahelegen. Vor allem haben sich der Blickwinkel und letztlich die Wahrnehmung verändert. Die Darstellung gesellschaftlicher Strukturen ist bei Bandelin von der psychologischen Betrachtung des Individuums, beziehungsweise der Betrachtung der Interaktion und der Beziehung der Individuen untereinander, abgelöst worden. Es ist sicherlich kein der Komposition geschuldeter Zufall, dass die rechte Figur auf dem Bild DIE JURY einem Bild Lucian Freuds von Leigh Bowery entlehnt ist. Wie bei Lucian Freud liegt der Fokus von Undine Bandelin auf der psychologischen Betrachtung des Porträtierten. Gleich einer Familienaufstellung nimmt bei ihren Bildern jeder seinen Platz, seine Rolle ein. Freiheit gehört zu den ganz großen Wörtern und fängt doch im Kleinen an, im Eingemachten sozusagen. Wenn Macht und Ohnmacht ein Gegensatzpaar bilden, so steckt der Begriff der Freiheit locker beide in die Tasche und wird zu ihrem Antagonisten. Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass die Personen auf Undine Bandelins aktueller Werkserie nicht frei sind und im Spiel zwischen Macht und Ohnmacht hin und her taumeln. Die Nacktheit der dargestellten Personen gibt Physiognomie und Körperhaltung dem Blick des Betrachters preis. Soll man sich bei Prüfungsangst oder bei sonstiger psychologischer Einschüchterung nicht die Prüfungskommission nackt vorstellen? Hilft die Nacktheit bei der Vermittlung des Allgemein-Menschlichen, dass wir uns als Mensch in unserem Gegenüber aufgehoben und akzeptiert fühlen? Die Hüllen und damit die Masken sind gefallen. Adam und Eva haben sich, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gekostet haben, bedeckt. Seitdem laufen die Menschen nicht nur angekleidet in der Welt herum, sondern sie lieben es auch, aktuell in durchaus erschreckendem Maße, alles zu bewerten: ihre Mitmenschen, Restaurants, Strände, Politik, Politik fremder Länder, Weltanschauungen. Das Wissen über die Dinge nimmt in demselben Maße ab, wie die Bewertungswut zunimmt. Und dann stehen wir als Betrachter den im wahrsten Wortsinne nackten Protagonisten in DIE JURY gegenüber und können uns letztlich freuen. Denn allein durch deren verletzliche Nacktheit fühlen wir uns besser, stärker und aufgewertet, vermutlich sogar überlegen. Der Spieß kann sich schnell umdrehen, Macht und Ohnmacht liegen schließlich nur ein Haarbreit auseinander und wir als Betrachter fangen an zu bewerten: die einzige Person der Fünfer-Konstellation, die auf dem Bild lacht ist auch die einzige weibliche Figur. Sie freut sich offensichtlich und lacht so unbedarft, dass man ihr augenblicklich unterstellt, sie sei sicherlich nicht aus Gründen der Sachkompetenz, sondern lediglich aufgrund einer Frauenquote in die Jury gewählt worden. Zwar sind ihre Beine nicht übereinandergeschlagen, aber zumindest bedeckt sie ihre Scham ladylike mit der rechten Hand. Politische Korrektheit, vor allem sprachliche Zugeständnisse, gut und schön, Entscheidungen werden aber bitte immer noch von den männlichen Zeitgenossen getroffen. So könnte der Betrachter − spielerisch zwar, aber jede Ironie transportiert auch einen wahren Kern − anhand der Exponiertheit des Geschlechts auf den Player in der Konstellation schließen: die sprichwörtlich dicksten Eier hat eindeutig der Herr rechts im Bild. Lässig den linken Arm auf die Armlehne gestützt hält er den Oberkörper, die Brust fast gerade und aufrecht. Breitbeinig, in ab der Hüfte verdrehter Körperhaltung, hat er es absolut nicht nötig irgendetwas zu verbergen. Im Gegenteil, seine Körperdrehung erhöht lediglich die Exponiertheit seines Geschlechts. Die Mimik dagegen ist skeptisch, der Kopf leicht zur Seite gedreht. Dass die besten Argumente den Sieg davontragen ist sowieso eine Illusion. Und so bleibt der Mund zusammengekniffen sowie auch das rechte Auge. Skepsis ist immer gut. Das fördert die eigene Überlegenheit und suggeriert schlagende Argumente. Vielleicht ist der zwischen den Beinen seines Nebensitzers versteckte Mittelfinger daher auch nicht eine allgemeine Botschaft, sondern explizit an ihn und seine Dominanz gerichtet. In dieser Figur paart sich der athletischste Körper der ganzen Personengruppe mit der offensichtlichsten Gesichtsentgleisung. Die Körperhaltung ist dem DENKER von August Rodin entlehnt. Hier allerdings ist es weniger der Kopf als das Gesicht, das sich tief in die aufgestützte rechte Hand vergräbt. Der Kopf ist nicht vom vielen Denken schwer, sondern vom Nicht-Denken und der daraus resultierenden Langeweile. Das Haupt ziert eine kleine Narrenkappe. Die bekommt immer derjenige zugesprochen, der sich in seinem jugendlichen Leichtsinn am längsten gegen das Unvermeidliche wehrt. Natürlich wurde ihm das Hütchen nicht aus Gründen der Demütigung aufgesetzt, sondern weil es einem jugendlichen Gesicht einfach am besten steht. Aber bestimmt kommen auch wieder bessere Tage. Dann werden neue Jurymitglieder kommen. Und ganz bestimmt wird sich eine Gelegenheit bieten einem der Neuen die Kappe aufzusetzen.

Esther Niebel