Das Imperium

Es ist verrückt. Früher war ein Imperium selbstverständlich ein Weltreich. Das Imperium Romanum, das Vielvölkerreich, das die europäische Kultur geprägt und ihr einen gemeinsamen Nenner beschert hat. Seitdem ist viel passiert. Über Völker zu sprechen ist in unseren Breiten heute völlig out. Und weil der Begriff aus unserer Wahrnehmung verbannt wurde, kann er weder tatsächlich noch im Bewusstsein anderer existieren. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“1. Was sich früher auf den Menschen an sich bezogen hat, bezieht sich heute zunehmend auf das Individuum. Das Ich, das selbstbezogene Wahrnehmen, ist das Maß aller Dinge. Wir brauchen die „me-time“, wir beurteilen danach, ob etwas „in meine Welt“ passt oder nicht und wir denken „was gut für mich ist, weiß ich selbst am besten“. Wie das Imperium Romanum auch, kann das innere Imperium in die Dekadenz abrutschen, kann zur psychopathologischen Manie werden. Um der Dekadenz und letztlich dem Wahnsinn zu entgehen, hilft nur eines: das Maß zum Maß aller Dinge zu erheben. Das Maß, das wie eine Wippe, die jeweils widerstreitenden Pole zum Ausgleich bringt. Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Pragmatismus und Idealismus, Ökonomie und Moral, ich und wir.

Davon sind die Personen, die uns Undine Bandelin zeigt, weit entfernt. Bei jeder Figur, sei es durch die Körperhaltung, den Gesichtsausdruck oder auch die begleitenden Accessoires wird deutlich, dass die Eigenwahrnehmung nicht abgeglichen wird. „Wie ich sein möchte, wie ich mich fühle, so bin ich und zweifellos werde ich auch so wahrgenommen.“ Dieses Credo unserer zum Narzissmus und zur Egomanie neigenden Kultur führt Undinen Bandelin vor, indem sie es uns vor Augen führt. Nackt, primär über die Körpersprache vermittelt, oder angezogen, über das „sich in Schale geworfen haben“, zeigt sie Menschen, die irgendwie den Bezug zur Realität verloren haben. Dieses Wissen teilt sie mit dem Betrachter. Und nicht nur das. Sie gibt ganze Bezugsrahmen mit, nach dem Motto „wie konnte es so weit kommen, dass ich mich nur in meinem Spiegelbild verliere und nicht in meinen Mitmenschen und meiner Lebenswelt widerspiegele.“ Dabei geizt Undine Bandelin nicht mit den Vorgeschichten der Psychopathologie ihres Bildpersonals: Bei dem GASTMAHL erinnert die Zentralfigur an Kaiser Nero, der Mann links im Bild scheint „ave Cäsar“ zu prosten, wobei die Perücke des Mannes neben ihm auf das 17. Jahrhundert verweist. Das Geschirr und Essensreste stapeln sich und um die Etikette, falls es so etwas gibt, scheint sich niemand zu scheren. Ein dekadentes, kaiser-könig-fürstliches Gelage, das stellvertretend für die höfische Kultur Europas ganz verschiedener Epochen steht. DIE HOCHZEIT zeigt ein von Hochzeitsgästen umgebenes Brautpaar, jeder mit sich beschäftigt und in seiner eigenen Rolle verstrickt. Im Hintergrund der überhohen Wände der Ahnenhalle sind diese zugegen, ob als Geist oder als tatsächliche Portraits bleibt unklar. Die Aussage jedoch scheint klar: mit der Hochzeit trägt man in Zukunft nicht nur die eigene Familiengeschichte mit sich herum, sondern auch noch die des Partners: halleluja! DAS ERBE stellt dem Betrachter eine Kleinfamilie vor. Der Gugelhupf steht auf dem Tisch, das schwarze Schaf sitzt in der Mitte und Urlaubskarten zieren die tapezierte Wand. Auch wenn die einzelnen Verweise keine konkrete Erinnerung hervorrufen, so erzeugt die Gesamtstimmung ein beklemmendes Gefühl. Das Gefühl auch allein nicht allein mit sich zu sein.

1„Der Mensch (griech. Anthropos) ist das Maß (griech. Metron) aller Dinge“ wird von dem Sophisten Protagoras überliefert. Damit rückt der Mensch und sein pragmatischer Handlungsspielraum als Maßstab in den Mittelpunkt. Diese Perspektive steht im Gegensatz zu ideellen, metaphysischen Anschauungen, die eine letztgültige und allgemeinverbindliche Wahrheit voraussetzen.

Text von Esther Niebel, März 2022

 

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